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Beitrag vom 19.03.2003
Was ist eigentlich Gender Mainstreaming?
Gerlinde Behrendt
Es geht nicht mehr nur um die ewigen gleichen Chancen für Frauen - und den Vorwurf, dass Frauen sie nicht richtig nutzen. Ziel ist die völlige Parität, die Geschlechterdemokratie
Bisher hatte Frauenpolitik häufig das Problem, als Extra-Ressort ohne eigene Kompetenzen mit Verbesserungsvorschlägen von außen in den eigentlichen Machtzentren der Politik in Erscheinung zu treten, quasi als Bittstellerin. Die neue Politik erhielt 1995 auf der Pekinger Weltfrauenkonferenz den Namen: "Gender Mainstreaming". In allen Politikbereichen soll überprüft werden, welche Auswirkungen die Entscheidungen auf die Lebenssituation von Frauen und Männern haben. Also: der Abschied von der Vorstellung, dass es "geschlechtsneutrale" Politikbereiche gibt. Mit dem Amsterdamer Vertrag vereinbarten alle Staaten auf europäischer Ebene, das Gender Mainstreaming Prinzip bei ihrer Politik anzuwenden.
In Europa sind die Skandinavierinnen die Vorreiterinnen, wenn es darum geht, konservative Strukturen in Organisationen aufzubrechen. Sie haben bisher die meisten Erfahrungen mit Gender Mainstreaming als innovativer Strategie - speziell für Organisationen, die "geschlechtshierarchisch" aufgebaut sind, die sich aber bisher als "neutral" ansahen. Eine Organisation ist dann geschlechtshierarchisch, wenn überwiegend Männer die Entscheidungspositionen besetzen und wenn der "Mainstream", also der dominierende Teil, traditionellen männlichen Denk-und Handlungsschemata verhaftet ist. Solche Denkschemata blenden z.B. unbezahlte Familienarbeit aus und halten den 10 Stunden-Arbeitstag für Führungskräfte für "normal". Männer profitieren von der "patriarchalischen Dividende", d.h. dem Nutzen, den sie oftmals unbewußt aus den alltäglichen patriarchalen Verhältnissen ziehen. Auch Männer haben ein Geschlecht: Wenn ihnen das bewusst wird, wird Gender Mainstreaming erfolgreich sein.
Der neue Begriff "Gender-Mainstreaming" lässt sich bisher nicht adäquat ins Deutsche übersetzen. Für das englische Wort "gender" ist das deutsche "Geschlecht" in der Übersetzung zu stark biologisch ausgerichtet. Im englischen wird unterschieden zwischen "gender" und "sex". Der Gender-Ansatz knüpft an die durch Gesellschaft und Erziehung vorgeprägte Rolle des jeweiligen Geschlechts an.
Bedeutet das nun den Abschied von der herkömmlichen Frauenpolitik?
Werden Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte überflüssig? Im Genderbereich werden die Frauenpolitikerinnen und -praktikerinnen weiterhin gebraucht, aufgrund ihrer Facharbeit aus der Geschlechterperspektive.
Die europäische "Gender Mainstreaming" Richtlinie enthält den Auftrag, Analysen zu den geschlechtsspezifischen Auswirkungen von Gesetzes- und Fördervorhaben zu erstellen, das wird erst mit der Mitwirkung der Frauen aus den Fachbereichen möglich werden. Aber von einigen liebgewordenen Vorstellungen sollte frau sich wohl verabschieden:
- Frauen, Frauenbeauftragte, Frauenpolitikerinnen sind nicht mehr allein für Fragen der Geschlechterdemokratie "zuständig",
- "Frauenförderung" heißt nicht, dass man sich um Frauen besonders kümmern muss, weil sie persönliche Defizite aufweisen,
- Veränderung von geschlechtsbezogenen Verhaltensweisen muss auch von Männern eingefordert werden,
- Gender Mainstreaming fördert nicht die Chancen einzelner Frauen, sondern verändert nachhaltig in einem über längere Zeit angelegten Prozess diskriminierende Strukturen von Organisationen.
Fazit: Neben der offiziellen Genderpolitik bleibt eigenständige Frauenpolitik als Instrument zur Entwicklung und Durchsetzung von Zielen weiterhin erforderlich.